Kostendruck in der PKV führt zu Bearbeitungsrückstand
Warum ist aber nun der Bearbeitungsrückstand groß? Der Grund lässt sich im Kostendruck in der privaten Krankenversicherung finden. Der zusätzliche Aufbau hoch qualifizierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kann nur in geringem Maße stattfinden, insbesondere dann, wenn fehlende Mehreinnahmen durch Neugeschäft den Aufbau von zusätzlichen Mitarbeitenden nicht möglich machen. Da vor dem Einsatz in der Leistungsabrechnung eine lange Zeit der Qualifizierung notwendig ist, ist es nicht möglich, dem Bearbeitungsrückstand mit der Beschäftigung zusätzlicher Arbeitskräfte in einer Phase hohen Arbeitsaufkommens zu begegnen. In der Folge bleibt das geringere Serviceniveau für die Kunden erhalten.
Dunkelverarbeitung zur Bewältigung des Rückstands
Ein Ausweg lag in den letzten Jahren in der sogenannten Dunkelverarbeitung. Dunkelverarbeitung bedeutet, dass bei der Bearbeitung der Fälle keine Sachbearbeiter tätig sind, sondern die Bearbeitung durch automatisierte Prozesse durch die Computersysteme der Versicherung erfolgt. Dies bedingt ein automatisches Auslesen der eingereichten Dokumente (oder die Anlieferung der relevanten Daten der Dokumente), sodass in einem Regelwerk die Tarifbedingungen auf die Rechnungen des Leistungserbringers (Arzt, Zahnarzt, Apotheke, Physiotherapeut etc.) angewendet werden können. Die Dunkelverarbeitung erfolgt in den meisten Fällen für die „einfachen“ Fälle.
Was sind denn nun „einfache“ Fälle? Einfache Fälle sind die eingereichten Dokumente, aus denen zweifelsfrei die Daten extrahiert werden können und bei denen die Regeln, nach denen eine Erstattung der Rechnung erfolgt, sich nicht in den Köpfen der Sachbearbeiter befinden, sondern in den Algorithmen des Computersystems hinterlegt sind. Die „einfachen“ Fälle werden also meistens bereits ohne Zutun eines Sachbearbeiters vollumfänglich bearbeitet.
Dunkelverarbeitung auch für komplexe Fälle
Warum werden dann die Regeln zur Erstattung nicht auch für komplexere Fälle in den Computersystemen hinterlegt?
Dazu muss man verstehen, welcher Grundgedanke bei der Einführung von Computersystemen in der Leistungsabrechnung der privaten Krankenversicherung zugrunde lag. Entwurfsgedanke der meisten auch heute noch in der Praxis eingesetzten Computersysteme war nicht die automatisierte Bearbeitung, sondern die Unterstützung und Entlastung von Spezialisten, die die Regeln für die Erstattung beherrschten. Zum Zeitpunkt des initialen Entstehens dieser Systeme bestand keine Möglichkeit, die Inhalte der eingereichten Rechnungen erkennen zu können. Ja, tatsächlich haben viele der Systeme ihren Ursprung in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Die Systeme dienten vielfach nur dazu, die Daten der durch die Sachbearbeiter erfassten Rechnungen und deren manuell durchgeführten Abrechnungen aufzunehmen und (meistens über Nacht) als Massendruck zu versenden sowie das Geld an den Kunden automatisiert auszuzahlen, indem Zahlungsaufträge an die Banken weitergeleitet wurden.
Rechenregeln leiten Erstattung aus Rechnungsbetrag ab
In diesen Systemen wurde also nicht das Wissen hinterlegt, dass für die Erstattung notwendig ist, schließlich war dieses bei den Sachbearbeitenden vorhanden. In einfachen Fällen wurden Rechenregeln hinterlegt, die den Erstattungsbetrag automatisch aus dem Rechnungsbetrag ableiten konnten, wenn die Erstattung als solche durch den Sachbearbeiter nach den in den AVBen und seinem Kopf hinterlegten Regeln geprüft wurde. Gleichzeitig sind diese alten Computersysteme Experten-Systeme, die nicht darauf ausgelegt sind, den Sachbearbeiter zu führen und ihm Wissen an die Hand zu geben, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Dies führt dazu, dass neue Mitarbeitende im Bereich der Leistungsabrechnung in der PKV eine lange Einarbeitungszeit in das jeweilige Computersystem benötigen. Damit ist es schwierig, die Bearbeitung des aufkommenden Arbeitsgutes in der Leistungsabrechnung kurzfristig skalieren zu können.
Was ist nun der richtige Weg, mit dem die Arbeit in der Leistungsabrechnung skalierbar gemacht werden kann?
Lösungsansatz mentale Migration
Im Gegensatz zu einer klassischen Migration, bei der Daten und Algorithmen aus dem technischen System A in das technische System B migriert werden, muss nun angeeignetes Wissen, antrainierte Verhaltensweisen und ein abgespeicherter Erfahrungsschatz aus einer inhomogenen Gruppe von Mitarbeitern (System A) in ein technisches System B migriert werden.
In der klassischen Migration werden üblicherweise die drei Buchstaben ETL für die drei Schritte einer Migration genutzt: E wie Extraktion, T wie Transformation und L wie Laden, wobei die englischsprachigen Begriffe extract, transform, load hier vielleicht semantisch treffender sind, insbesondere load, welches im Englischen etwas mehrdeutiger ist als das deutsche Verb laden.
Die Schritte im mentalen Migrationsprozess im Einzelnen:
Extract: Ein facettenreicher Prozess
Die Extraktion stellt sich in diesem Migrationsprozess als schwieriger Prozess dar, der sich in mehreren Facetten widerspiegeln kann: zu nennen wären hier Punkte wie die Bereitschaft, Wissen preiszugeben, oder die Angst davor, nicht mehr Wissensträger zu sein. Hinzu kommen Schwierigkeiten, das Wissen zu vermitteln, weil dieses nur selten Aufgabe von Sachbearbeitern ist. Es gibt Probleme, das Wissen für die Transformation aufzubereiten, also in Regeln zu überführen und es verbleibt die Unsicherheit, ob alles Wissen extrahiert werden konnte. Die Gesamtheit des Wissens ist zu unterschiedlichen Anteilen auf viele, menschlich sehr vielfältige Individuen verteilt. Dies sind Beispiele aus den vielfältigen komplexen Facetten, die auftreten können im Versuch, das Wissen zu ermitteln. An dieser Stelle ist die Begleitung des Prozesses durch geschulte und emphatische Mitarbeitende, die mit diesen besonderen Situationen umgehen können, von essenzieller Bedeutung. Den Wissensträgern muss der Weg aufgezeigt werden, wie ihre Aufgaben in der Zukunft aussehen werden: Nicht der abrechnende Mitarbeiter, der Aufgaben wie Berechnungen und Recherche übernimmt, sondern der Versicherungsexperte, der von stupiden Aufgaben entlastet wird, und nun zum Berater des Kunden avanciert.
Transform: Wissen von Mensch zu Maschine weitergeben
Die Transformation des extrahierten Wissens aus dem menschlichen System A in das technische System B ist eine Aufgabe für Experten, die darin geübt sind, das Wissen so zu transformieren, dass das aufnehmende System dieses speichern und anwenden kann. In unseren Projekten zur Einführung des Leistungsabrechnungssystems in|sure Health Claims sind dies Leistungsmodellierer und Prozessmodellierer. Diese Modellierer setzen das extrahierte Wissen in ein Leistungsmodell um, welches das Wissen der Sachbearbeiter, auch hinausgehend über das in den AVBen schriftlich fixierte Wissen und den schriftlich verfassten Arbeitsanweisungen, abbildet und eine weitestgehende automatische Anwendung des Modells auf die Erstattungsanträge ermöglicht. Wenn eine komplett automatisierte Umsetzung nicht möglich ist, werden die notwendigen Daten durch einfache Fragen an Sachbearbeitende ermittelt und führen dann zu einer automatischen Berechnung. Die Prozessmodellierer passen die Prozesse im Zusammenspiel mit den Leistungsmodellierern auf eine hoch effiziente Umsetzung an. Die dazu notwendigen Skills werden im Laufe des mentalen Migrationsprozesses auch unseren Kunden vermittelt, damit diese in der Lage sind, im Laufe der Einführung des Systems neues Wissen und neue Ideen erfolgreich in das System zu migrieren bzw. zu integrieren.
Load: Menschliches Wissen aufnehmen
Dieser Schritt führt zu Anforderungen an das aufnehmende System. Das aufnehmende System, in diesem Fall in|sure Health Claims, muss geeignet sein, das Wissen der Sachbearbeitenden aufnehmen und auch anwenden zu können, wenn möglich komplett automatisiert. Das System muss also in der Lage sein, einen Erfahrungsschatz aufbauen und diesen auch abrufen zu können, als Basis für die ihm antrainierten Verhaltensweisen, die dann die richtigen Entscheidungen ermöglichen. In den allermeisten Fällen ist damit keine KI gemeint, sondern dies sind regelbasierte Verhaltensweisen, da die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen jederzeit gegeben sein muss. Der Einsatz von KI kann aber unterstützend erfolgen, z. B. um zu erkennen, ob eine Rechnung für einen stationären Aufenthalt von einer Kurklinik oder einem normalen Krankenhaus vorliegt. Eine Aufgabe, die einem Sachbearbeiter durch den Blick auf die Abrechnung sehr leicht fällt, einer regelbasierten Erkennung der Abrechnung jedoch deutlich schwerer als einer KI-basierten Erkennung. Wenn nun das aufnehmende System in der Lage ist, das Wissen der Sachbearbeiteter nahezu komplett aufnehmen zu können, sind alle Voraussetzungen für die mentale Migration gegeben.
Mentale Migration ebnet den Weg zur Skalierbarkeit
Mit der erfolgreichen mentalen Migration sind damit die Wege zu einer Skalierbarkeit der Leistungsabrechnung geebnet: Die Leistungssachbearbeiter werden durch Fragen an das korrekte Ziel geführt, ohne eine komplexe Tarifwelt gelernt haben zu müssen. Damit ist es möglich, neue Leistungssachbearbeiter in kürzester Zeit produktiv einzusetzen bzw. in Zeiten hohen Arbeitsaufkommens auch Mitarbeiter anderer Bereiche einzusetzen. Das Leistungsabrechnungssystem selbst ist aufgrund des überführten Wissens in der Lage, die notwendigen Berechnungen und Recherchen im System automatisiert durchzuführen, womit – bei guter Extraktion der Daten der eingereichten Belege – eine höchstmögliche Dunkelverarbeitung erreicht wird.
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